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Carmilla

Ohne Carmilla gäbe es keinen Dracula: Mit der Neuverfilmung des Vampir-Stoffs von Sheridan Le Fanus aus dem Jahr 1872, holt Emily Harris zu einem schockierend-erotischen Schlag in die Magengrube aus.


Von Jonathan Ederer

Johann Wolfgang von Goethe öffnete mit Die Braut von Korinth einst das Tor zu einer Welt, die den Sterblichen bis dahin verwehrt gewesen war. Einer Welt vor dem Abgrund oder wie sie sie Sheridan Le Fanus Figur der Carmilla beschreibt: die Wüste öder Ewigkeiten. Im Visier des Poeten: die religiöse Moral, die Geschlechtlichkeit, deren Natürlichkeit in einem christlichen Wertekanon keinen Platz hatte und verleugnet wurde.

75 Jahre später und 25 Jahre vor Bram Stokers Dracula verstörte Le Fanus viktorianische Novelle Carmilla mit einer für jene Zeit skandalösen erotischen Darstellung mit klaren Bezügen zum Vampirismus und zur weiblichen Homosexualität. Der Roman des irischen Autors erschien zunächst in drei Teilen und anschließend als Sammelband – die Geschichte spielte dabei ursprünglich in der österreichischen Steiermark, im Film ist der Schauplatz auf der britischen Insel.

Mysterium und Martyrium

Die 15-jährige Lara (Hannah Rae) ist ein Mädchen, das in den Tag hinein träumt, sich fragt, wo die Seelen hingehen – „die Guten gehen in den Himmel“ – und an den Monaden schnuppert. Ein eingängiges Studium der menschlichen Physiognomie bleibt ihr jedoch verwehrt. Denn: Beständig und wie wenn ein Taktstock aufs Klavierholz klopft, stolziert die Gouvernante Miss Fontaine (Jessica Raine) hinter ihr auf und ab und es bleibt nicht lange geheim, dass sie ihre Nase in medizinische Bücher ihres Vaters gesteckt hat. Sie wird bestraft und mitten im viktorianischen Zeitalter spürt Lara mittelalterliche Nachwehen, die sie nicht nur von innen quälen, sondern sich unter den Peitschenhiebe der Gouvernante auch von außen in ihr Fleisch brennen.

Als ein mysteriöses rothaariges Mädchen (ganz toll: die deutsche Schauspielerin Devrim Lingnau) nach einem Unfall bei ihnen aufgenommen wird, ändert sich alles: Lara blüht auf und gibt der zunächst apathischen gleichaltrigen jungen Frau, die sich nicht an die Vergangenheit zu erinnern scheint, sogar ihren Namen: Carmilla. Doch nicht nur ihr Name ist menschgemacht: sie selbst, Carmilla, das personifizierte zu Begehrende – das stellt Lara bald fest – ist das Resultat einer Gruselgeschichte, die sich die Menschen über Jahrhunderte weitererzählt haben. Einerseits rankt sich ein Mysterium um sie und ihre Herkunft, andererseits wird ihr ein Martyrium auferlegt, denn viele sehen in ihr den Teufel. Für Lara dagegen ist Carmilla ein Segen.

Stirb und werde!

Carmilla ist ein Erzählung, in in der es um Tabus, deren Brüche und die Möglichkeit geht, sich einer in Stein gemeißelt erscheinenden zukünftigen Wirklichkeit zu entziehen: „Ein Teil der Blume muss sterben, damit der Rest zu einer neuen Frucht wird“, sagt Miss Fontaine, während sie beständig versucht, von außen zu Lara vorzudringen. Doch Carmilla ist es, der es gelingt, ihr Herz mitsamt der roten Flüssigkeit, die dieses Organ durch Laras Körper pumpt, zu gewinnen. Es ist schockierend, zugleich aber sehr romantisch mitanzusehen, wie die Vampirin diesen folgenschweren Eingriff am Körper der Jungfrau vornimmt: Es sind unverblümte Einblicke in das Seelenleben der beiden, wenn sie voneinander träumen – wobei beseeltes Ambiente, wenn sich beide jungen Frauen aneinander schmiegen, und entlarvendes Statement, wie sie sich alle Geheimnisse erzählen, die sie selbst nicht begreifen wollen, ineinander übergehen.

Höre Mutter, nun die letzte Bitte:

Einen Scheiterhaufen schichte du,

Öffne meine bange kleine Hütte,

Bring in Flammen Liebende zur Ruh.

Wenn der Funke sprüht,

Wenn die Asche glüht,

Eilen wir den alten Göttern zu.

Johann Wolfgang von Goethe

Einerseits ist Carmilla ein Nachzehrer, ein Wiedergänger, der mit innerlicher Unerschütterlichkeit an den Adern Laras saugt. Sie glaubt an die Wüste öder Ewigkeiten – sie weiß, dass die anderen glauben, sie sei der Teufel. Doch das Erstlingswerk von Regisseurin Emily Harris geht dabei so sensibel vor, dass jeder so stimmungsvoll ins Szene gesetzter Moment auch beruhigend wirkt. Die Sets sind ganz wunderbar ausgeleuchtet, dass deutlich wird und man plötzlich mitfühlen kann, warum sich die Menschen vor Carmilla und ihrer Schönheit so sehr fürchten.

„Da liegt Dunkelheit in ihren Augen“

Die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellerinnen Devrim Lingnau und Hannah Rae lässt die Leinwand knistern und macht den Film erst so richtig zum Erlebnis: Obwohl die Blicke, die sie austauschen, zunächst durch harte Schnitte getrennt sind, verbindet beide ein anschwellendes Band aus Fleisch und Blut, das aus der Leinwand gleichsam herausquillt. Jedes Bild, jedes Moment und jede Komposition trifft dieser Nerv der Verbundenheit, huldigt dem Originaltext und beleuchtet das Verlangen, dem sich beide nur zu gern hingeben würden – wäre da nicht jene Scheinmoral, der Kodex der verklemmten Geschlechtlichkeit im Allgemeinen und der Gleichgeschlechtlichkeit im Speziellen.

Die Gouvernante ihrerseits, so scheint es, hat einen ganz eigenen Kampf zu führen. Ausgeschlossen aus der Zweisamkeit, erweckt sie in jedem Moment ihrer gelebten Prüderie das Gefühl, sie hätte in ihrer Jugend jene pulsierende Freude, die man nur zu zweit erleben kann, zwar erfahren, jedoch nicht zu Ende gelebt. Die eine, zweieinige Welt ist herzerwärmend und das Resultat der Kollision mit der anderen herzzerreißend. Carmilla, stellenweise so blutig und so düster, ist ein Film der scheinbaren Antithesen, die sich am Ende von Harris zu einem Konglomerat vermengen lassen – das Ergebnis ist in dieser Form recht einzigartig ist.

Denn der Film schafft es, dem Genre des Gothic-Horrors trotz klar ausformulierter sinnlich-sexueller Wegmarken seine Ernsthaftigkeit nicht abzusprechen: Carmilla ist stellenweise unfassbar erotisch und betörend – die beiden Figuren gleiten dabei mit einem Selbstverständnis durch den Film, dass der Gedanke einer Überinszenierung erst gar nicht in den Sinn kommt. Es sind aber vor allem die Hauptdarstellerinnen, die in jene berauschende Gefühlswelt einführen. Beide zeigen anmutig und leidenschaftlich, was es heißt, im 18. Jahrhundert am Leben sein zu wollen.

Am Ende versammelt Harris dann nochmal das ganze Orchester an Eindrücken und symbolischen Kräften: In einem elegischen Geigensog niedergehend, der unter synästhetischem Zucken in einen Fiebertraum übergeht, steigt schließlich das Grauenhafte aus einer nebligen Nacht, dem sich anstauenden Kerzendampf und aus einem Guss empor: Dabei ist es stets die Natur und deren Unvergänglichkeit und eben die Natur der Geschlechtlichkeit, die Lara Halt in diesem Sog aus vampiristischer und sexueller Leidenschaft geben und bis zum Crescendo am Ende für Paukenschläge in die Magengegend sorgen.

Bildquelle: Carmilla © Busch Media Group 2020 | Fotos: Nick Wall


Carmilla erscheint am 23. April 2021 auf DVD und Blu-ray bei der Busch Media Group (hier geht’s zur Facebook-Seite) und ist bereits ab dem 19. März als Video-on-Demand verfügbar.

Voraussichtlich ab März geht Carmilla zudem in ausgewählten Kinos auf Tour – in Anwesenheit der deutschen Hauptdarstellerin Devrim Lingnau.