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David Lynch. Werkschau I

Ein Blick auf das Œvre des Meisters des Surrealen lohnt nicht nur dann, wenn die Situation besonders absurd erscheint. Die Filme von David Lynch lehren uns, die eigene Sichtweise auf die Realität zu hinterfragen, der Idylle im Garten gegenüber nicht immer zu trauen und nicht zuletzt helfen sie uns, das Medium Film als eigenständige und berechtigte Form der künstlerischen Verständigung zu betrachten. Denn wer die verhangenen Räume des David Lynch einmal betreten hat, der denkt im Traum nicht daran, sie wieder zu verlassen. Eine Werkschau auf den Zeitraum zwischen 1977 und 1990, lassen wir seine Filme sprechen.

„All my movies are about strange worlds that you can’t go into unless you build them and film them. That’s what’s so important about film to me. I just like going into strange words.“

David Lynch

Eraserhead (1977)

Was passiert, wenn man eine Vision von Franz Kafka in die Industrielandschaft von Philadelphia hat, aber kein Geld zur Verfügung hat? Die Antwort finden wir in den 70er Jahren, als ein noch unbekannter David Lynch versuchte, sich beim American Film Institute in Los Angeles zu bewerben und vergeblich seine Drehbuchentwürfe an den Mann bringen wollte. Seine Idee war eine Schwarz-Weiß-Atmosphäre, wie sie Bill Wilder in Sunset Boulevard geschaffen hatte und so führte er diesen Film vor den Dreharbeiten zu Eraserhead seiner Crew um Jack Nance und Charlotte Stewart vor. Die Produktionsprozess dauerte am Ende fast sechs Jahre an, wobei Lynch neben der Regie, Produktion und Drehbuch auch die Musik in einem selbst eingerichteten Tonstudio selbst arrangierte.

Im Film macht dem zurückhaltende Drucker Henry Spencer ein plötzlich geborenes Baby von seiner Ex-Freundin Mary zu Schaffen. Nachdem er bei einem Abendessen bei ihren Eltern davon erfährt, versucht er sich auf die gemeinsame Pflege des missgebildeten Frühchens einzulassen, wobei Mary bald aufgibt und ihn alleine lässt. Als er keinen Ausweg mehr sieht, tötet er das als Wesen zu bezeichnende Etwas und driftet in einen Zustand ab, der sich durch eine Vermischung aus Traum und Realität auszeichnet. In einer markanten Traumsequenz versinkt Henry in dieser industriellen Übermacht, die ihn und seine menschlichen Probleme materialisiert und zu erdrücken droht, und wird zu einem Radiergummikopf verarbeitet.

David Lynch legt 1977 den Grundstein für sein eigensinniges, unverwechselbares und stilprägendes Oevre, das sich im Surrealismus aufhält, sich über den Horror erstreckt, letztendlich aber als ganz eigenes Genre zu betrachten ist: Ein David Lynch-Film eben.

Eraserhead hat alles, was wir in seinem späteren Werk lieben gelernt haben, in rudimentärer Form bereits zum Motiv gemacht: Gezackte Teppichmuster (Twin Peaks), Schwarz-Weiß-Optik (Der Elefantenmensch), unkonventionelle Erzählstrategie (Inland Empire), Elektrizität als Stilmittel (Twin Peaks, Mulholland Drive), die in sich geschlossene Filmrealität, Traumsequenzen, Traumlogik, Industrial Sound sowie der im Kontrast stehende Humor. Eraserhead wird als letzter Avantgardefilm bezeichnet, das Absurde öffnet sich einem Publikum in nicht da gewesener Form. Der Film wird heute als Kultfilm gefeiert, doch zeitnah stellte sich ein Regisseur vor, der den Film liebt und seine Umsetzung auf eine ganz spezielle Weise interpretiert.


Der Elefantenmensch (1980)

Das Groteske bekam 1980 einen Ausdruck in Filmform. Der Elefantenmensch war bei nur fünf Millionen Dollar Produktionskosten und mit 26 Millionen Dollar im Box Office nicht nur ein finanzieller Erfolg, sondern überzeugte auch die Academy bei der Oscar-Verleihung im Jahr darauf. Der Regisseur David Lynch war nun in aller Munde und brachte einen Stoff in die Kinos, der nicht anrührender hätte sein können: Die Geschichte von John Merrick, einem grauenvoll entstellten Menschen, der es in einer auf den Utilitarismus fokussierte Gesellschaft denkbar schwer hat, sein Innerstes nach außen zu tragen.

Als der Chirurg Frederick Treves (Anthony Hopkins) den zur Zirkusattraktion verkommenen John Merrick (John Hurt) über den Weg läuft, bedeutet dies eine Wende in beider Leben. Während Merrick an sozialer und intellektueller Sicherheit gewinnt, nutzt Treves Merricks deformierten Körper zu wissenschaftlichen Zwecken, jedoch nicht ohne ihn gut zu behandeln und ihm Möglichkeiten der Entfaltung zu geben. Nun beginnt auch die höhere Gesellschaftsschicht, sich über den mit Tumoren übersäten Merrick zu erkunden, es herrscht ein Austausch zwischen ihm und der Londoner Kulturszene und auch Königin Victoria übermittelt Grüße. Doch der entstellte Mensch mit einem Ballast als Schädel, der ihn dazu zwingt, im Sitzen zu schlafen, weckt auch die Instinkte jener Menschen, die ein Geschäft darin sehen, einen Blick auf Merricks Äußeres zu ermöglichen.

David Lynch entfernt sich hier von der experimentellen Struktur seines Erstlingswerks Eraserhead und legt dem Elefantenmenschen eine relativ konventionelle Dramaturgie zugrunde. Zwar bleibt das Unbeschreibliche, das große Es, das Surreale und Hässliche im Zentrum der Thematik, doch wirkt der Stoff durch seine Verbindung zur Realität greifbarer und nach Außen gekehrt. Das sui generis ist nur noch bedingt gegeben, die Schöpferkraft erweitert zwar noch immer den weltlichen Kosmos, der in dem Film unverkennbar im London des 19. Jahrhunderts verankert ist, doch mit der Vorlage eines Menschen, der diese Geschichte tatsächlich so oder so ähnlich durchlebt hat, kommt dem Surrealen ein handfester Realismus entgegen. Der echte John Merrick litt wohl unter dem Proteus-Syndrom, das sich durch übermäßigen Wuchs in bestimmten Körperregionen auszeichnet.

Bei der detailreichen Umsetzung des viktorianischen Londons verbleibt Lynch in der Schwarz-Weiß-Optik, interveniert somit beim zugelassenen Realismus und bietet dem Grotesken Raum, sich in alptraumhaften Szenen, farblos und entrückt in unser Unterbewusstsein zu manövrieren. Der Kontrast zwischen dem von der Außenwelt zur moralischen Höchstinstanz gefolterten Merrick und seinem Äußeren wird auf die Spitze getrieben, indem er nicht nur wegen seines Aussehens, sondern zudem wegen seiner Gutmütigkeit entmündigt wird. Für diese kann er jedoch nichts, sie ist eine Folge der jahrelangen Qualen, denen er in körperlicher und psychischer Haft ausgesetzt war. So verlangt uns Lynch nicht nur eine andere Betrachtungsweise des Quasimodo-Motivs ab, sondern stellt klar, dass in einem standartisierten Kontext moralische Untaten und Grotesken nicht umgekehrt oder ungeschehen gemacht werden können. Denn wenn es Akteure beider Überzeugungen in den Extremen gibt, bleibt der Schwache der Verlierer.


Dune (1984)

Nachdem David Lynch einige Jahre das ihm von George Lucas unterbreitete Angebot ausschlug, die Rückkehr der Jedi Ritter zu verfilmen, schienen Hollywoods Produzenten jedoch weiter Potenzial von Lynchs Stil im Science Fiction Genre zu sehen. Kein geringerer als Alejandro Jodorowski, chilenischer Filmvisionär und Regisseur des Midnight Movie-Klassikers El Topo und der Film gewordenen Transzendenzerfahrung Der Heilige Berg, hatte Jahre zuvor versucht jenen Stoff von Frank Herbert zu verfilmen, der als unverfilmbar galt: Dune, der Wüstenplanet.

Herberts Buch ist weniger Geschichte als vielmehr Schrift gewordene Vision, die in einfachster Prosa Anklang bei vielen Lesern der Science Fiction Literatur fand. Der Wüstenplanet wurde auf eine Reihe ausgeweitet und so war es schon vor Beginn des Drehstarts ein schwieriges Unterfangen, dieses umfangreiche Werk in einen einzigen Film zu bannen. Mit einem großzügigen Budget nahm Lynch dann die Vorlage zur Hand und konzipierte einen Film, der mit einer ursprünglichen Laufzeit von 210 Minuten deutlich Überlänge hatte. Der fast vollständig in Mexiko gedrehte Film wurde jedoch stark gekürzt, Lynch sah seine eigentliche Absicht und Vision verfälscht und distanziert sich bis heute von Dune.

Die dramaturgische Essenz des Wüstenplaneten ist eine Droge namens Spice, die nur auf dem Wüstenplaneten abgebaut werden kann, alterungshemmend wirkt und so auch kriegerische Verhältnisse mit sich bringt. Es entspinnen sich Intrigen in galaktischen Ausmaß. Es bereitet schon in dieser Werkschau Schwierigkeiten, den Plot angemessen zu kürzen und zugleich anschaulich darzustellen, und die selben Probleme hat der Film, der am Ende in einer Fassung von 137 Minuten zu sehen war. Lynch entfernt sich visuell und auch inhaltlich von seinen expressionistisch-surrealen Nachtstücken Eraserhead und dem Elefantenmenschen und nimmt verschiedene Stilprägungen an, die Dune schlussendlich wie einen Flickenteppich erscheinen lassen, der weder fertig ist noch das große Ganze im Blick hatte.

Es ist schwer, einen Regisseur zu kritisieren, der mit dem eigenen Werk bricht, es sogar verleugnet. Im Gegensatz zu Jodorowsky hatte man bei Lynch nie das Gefühl, dass er dem Stoff etwas abgewinnen konnte. Ersterer hatte Dalí, Giger und Mick Jagger engagiert, um das größte Filmerlebnis der Geschichte zu schaffen, das über eine Laufzeit von über 8 Stunden über die Leinwand gehen sollte. Lynch bekam zwar Sting, Stewart und Max von Sydow an die Hand, doch außer der Prägung im Cyber Punk Genre bleibt nicht viel übrig. Doch etwas Gutes hat Dune dann doch. Er ist der Anfang einer jahrzentelangen Zusammenarbeit von David Lynch und Kyle MacLachlan, die einige Jahre später mit Twin Peaks den Gipfel der TV-Geschichte markieren wird.


Blue Velvet (1986)

Die Vorstadtidylle und deren Fadenscheinigkeit werden das Werk von David Lynch ab Blue Velvet bis in die 90er hinein begleiten. Die Thematik variiert zwischen menschlichen Abgründen, Korruption und Sexualverbrechen, umspannt den Film Noir galant und Lynch schafft es zugleich, den Blick auszuweiten. Die altbekannte Tristesse dieses Genres, das bisher auf Traumata der Nachkriegszeit beschränkt war, bekommt einen neuen, bläulich kalten Anstrich, ist in einem Vorort vorzufinden, der mit sämtlichen Vorurteilen behaftet ist: Der Nachbar stutzt fein säuberlich die überstehenden Grashalme, während der Milchmann freundlich von der Straße auf sich aufmerksam macht. Doch der Schein trügt, denn das Böse in Form eines durchtriebenen Dennis Hopper treibt hinter diesem vertraut wirkenden Vorhang sein Unwesen.

Kyle MacLachlan spielt Jeffrey Beaumont, der aufgrund einer Verletzung und zur Unterstützung seines Vaters vom College befreit ist und zu Hause bleibt. Als auf einem abgelegenen Weg außerhalb der Stadt ein abgetrenntes Ohr findet, kontaktiert er die Polizei, lässt es sich aber nicht nehmen, dem Fall gemeinsam mit der Tochter von Detective Williams, Sandy (Laura Dern), auf eigene Faust zu untersuchen. Dabei gerät er in die Wohnung der Nachtclubsängerin Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) und wird Zeuge eines Sexualdelikts, das in einer animalischen Fiebrigkeit vom neurotischen Psychopathen Frank Booth durchgeführt wird.

„Es begann mit dem Lied Blue Velvet von Bobby Vinton, das 1964 herauskam. Durch das Lied kam ich auf die Idee mit dem Geheimnis, das sich hinter der Fassade einer ruhigen Kleinstadt verbarg.“ David Lynch schrieb bereits vor Eraserhead an einem Skript zu Blue Velvet, das jedoch zu der Zeit keinen Produzenten fand. Als dann der Drehstart 1986 in Aussicht war, überzeugte er seine Muse Isabella Rossellini die Rolle der Sängerin und Opfer von Frank Booth zu übernehmen, nachdem zuvor Helen Mirren und auch Val Kilmer, der im für Jeffreys Rolle im Gespräch war, aus wegen der „pornographischen Szenen“ ablehnten.

Blue Velvet ist ein poetischer Film, der aber nicht die Augen vor dem im Dunkeln liegenden abwendet, den Vorhang zurückzieht und hinter die Fassade blickt. Farben spielen in Lynchs Filmen immer eine wichtige Rolle, doch hier ist die Wahl besonders auffallend. Die Palette beinhaltet vorwiegend Blau und Rot, das Kalte wechselt sich mit der Wärme ab, die aber nicht unbedingt im Kontrast zueinander stehen müssen. Die Figur der Dorothy Vallens beinhaltet beides und spielt diese Ambiguität innerhalb von Sekunden aus. Da sie sexuell gedemütigt und psychischer Verstümmelung ausgesetzt ist, sehnt sie sich einerseits nach Nähe und sobald sie diese Wärme in Form von Jeffrey zu spüren beginnt, löst das eine Kette der Gefühlswandlung aus: Da sie auf eine gewaltbehaftete körperliche Nähe konditioniert scheint, wandelt sie die erfahrene Wärme in eine Kälte um, die nun von ihr ausgeht. So temperiert Lynch den Film auf eine einzigartige Weise, lässt diese Schübe jedoch stets fluid und konsequent erscheinen.

Es gibt eine Szene, in der Jeffrey dabei zusehen muss, wie Dorothy von Frank Booth vergewaltigt wird. Der Zuschauer nimmt hier dieselbe beobachtende, voyeuristische Rolle ein, Lynch zwingt uns, diesem Sexualverbrechen beizuwohnen, ohne eingreifen zu können. Wie Jeffrey hinter dem blauen Vorhang bannt er uns hinter die Bruchstelle des Bildschirms. Dass Jeffrey Dorothy begehrt, ist klar, dass er sich hier in einer ohnmächtigen Position befindet, torpediert ein Eingreifen. Der Philosoph Slavoj Zizek erkannte in dieser Szene einen Komplex, in dem das Kind unfreiwillig Zeuge des Geschlechtsakts seiner Eltern wird. Es entsteht eine Manifestation der ödipalen Problemstellung. Das Kind erkennt das erste Mal in seinem Leben, dass es innerhalb der Beziehung der Eltern, die sexualisiert ist, und somit im bisher beständigen Kosmos, verdrängt wird, überflüssig ist. Er kann der Mutter, Dorothy nicht dienen, wie es der Vater, Frank, tut, und so bleibt nur eine Lösung dieses Dilemmas: Der Predator, der Vater muss aus diesem Gespann entfernt werden. Die Erkenntnis der eigenen Extrahierung aus diesem Gefüge ist der Schritt in ein eigenes Konstrukt, das als Teil des Prozesses in die Adoleszenz bezeichnet werden kann. Wir können Blue Velvet als nicht nur einen modernen Film Noir betrachten, sondern auch als Coming of Age.


Wild at Heart (1990)

Den Beginn der 90er Jahre läutete David Lynch mit dem Roadmovie Wild at Heart ein. Die Hauptrollen übernahmen Nicholas Cage und Laura Dern, Willem Dafoe nahm die Rolle des diabolischen Mörders Bobby Peru an, der Züge seines antagonistischen Vorgängers Frank Booth aufweist. Die Geschichte von Sailor und Lula ist der Auslöser einer Road Movie-Welle, auf der sowohl Ridley Scott mit Thelma & Louise (1991) als auch Oliver Stone mit Natural Born Killers (1994) ritten. In Lynchs Ausrichtung dieses Genres befindet sich das im Zentrum stehende Liebespaar in einem Stadium der unbegrenzten Freiheit, die nur durch Sailors bösartige Steifmutter gestört wird: Sie will ihn tot sehen.

Wild at Heart basiert einerseits auf der Romanreihe von Barry Gifford, geht aber aufgrund seiner märchenhaften Motivik und Symbolik ebenso auf den Zauber von Oz (1939) zurück: Es war einmal… Wild at Heart.

Dass der Film 1990 mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet wurde, unterstreicht seine zeitnahe kulturelle Wichtigkeit und auch das Gespür, das David Lynch bezüglich seiner Themen an den Tag legt. Er greift das Freiheitsgefühl vergangener Jahrzehnte auf und mischt eine dunkle Note darunter, die sich in Anbahnung der Modernisierung un deren Vermarktung auszeichnet. Klassische Motive werden eingewoben, dienen der Vereinheitlichung und als Anker in einer verkomplizierten Gesellschaft. Sheryl Lee alias Laura Palmer spielt hier im wahrsten Sinne eine gute Hexe, Jack Nance (Eraserhead) den Hundemann, es gibt einen Mann mit einer Krötenstimme und Bobby Peru personifiziert alles Böse, was die Märchenwelt je gesehen hat.

Wild at Heart ist zwar teilweise arg klischeebehaftet, Lynch behält jedoch immer die Oberhand und schafft es dank seines eigenwilligen Handwerks, dass seine Stereotypen nie aus den Fugen geraten. Und so ist selbst die Schlussszene mit üppiger Küsserei unter der Stimme von Elvis Presley ein Moment, der zwar trieft, aber im Lynch-Kontext nicht verdrängt werden muss: Denn Nicholas Cage ist in seiner ständigen Überzogenheit eine dermaßen absurde Erscheinung, dass es keine wörtliche Ironisierung braucht, um den Unernst der Lage, das Surreale zu erkennen.