Eine psychische Reise ins innere Ausland oder wie Freud es ausdrücken würde: Das Unbewusste. Flusskapitän Marlow schifft buchstäblich den Styx entlang, Monate lang und seiner Überzeugung, der Ehrlichkeit, entfliehend, dem reinen, unbedeckten Horror ins Auge zu blicken: der Gang ins Innerste, der so viel Schrecken birgt, dass selbst puristischste Ästhetik verformt wird. Mit seiner Crew begibt er sich durch den Urwald am Kongo auf die Suche nach dem versteckt lebenden, jedoch wegen seiner Zwielichtigkeit und Hortung von Reichtum mittlerweile in Verruf geratenen Kurtz. Eine Reise in den Dschungel, dem Unergründeten und in der Dunkelheit liegenden Ort des Es. Das Sujet des Herzens der Finsternis basiert auf Joseph Conrads Erzählung aus dem Jahr 1899. Seither bestimmt es künstlerische Unternehmungen ins Innerste des menschlichen Wesens.
„Ich fühlte plötzlich, wie groß, wie unheimlich groß das Ding war, das nicht sprechen konnte und vielleicht ebenso wenig hören. Was war dort drin? Ich konnte sehen, dass ein wenig Elfenbein von da herauskam, und hatte gehört, dass Herr Kurtz dort drin war.“
Marlow in Herz der Finsternis von Joseph Conrad
Der zu den Dreharbeiten übergewichtige und kaum auf seine Rolle vorbereitete Marlon Brando mimt jenen Kurtz. In Apocalypse Now (1979) ein desertierter General der US-Armee, zurückgezogen in Kambodscha, das im Vietnamkrieg neutralen Boden darstellte, und sich selbst zum Gott ernannt. Kurtz ist ein falscher Gott, ein Totem, der in dionysischer Formgebung dem Wahnsinn verfällt und ihn zugleich auslöst.
Von ihm erwarten sich die Soldaten um Martin Sheens Figur Willard (die Entsprechung zu Marlow im Buch) eine Aufklärung und fordern ein, was der Staat verlangt: Die Rückkehr von Kurtz in heimatliche Gefilde. Doch er entpuppt sich als das Grauen in Person, auf das man stößt, dringt man zu tief in unerforschtes Gebiert vor. Als die gewaltbedingte Verneinung der Zivilisation selbst und der Perversion der Heilsbringung an diesem Ort des Krieges.
In der Vorlage handelt Kurtz nicht als Kriegsherr, sondern mit Elfenbein. Marlon Brandos Erscheinung inmitten dieses Chaos bleibt pro forma die Leib gewordene Essenz des Laokoon, Reinheit und makellose Gesichtszüge. Doch es fault im Inneren. Kaum noch verleiten ihn Gedanken zur Ausformulierung. Jedes Wort ist wie ein Antrieb des Strudels aus Wahnsinn, gescheiterter Aufarbeitung der Kriegswirren und Kollision zwischen verschwimmender Realität und interpersonalem Anspruch. Und doch bleibt ihm die Nennung des Bösen, das aus seinem Innersten entspringt, die Läuterung seiner Seele innerhalb seines selbst inszenierten Trauerspiels: „Das Grauen, das Grauen!“
Danach: Stille. Auch Martin Scorsese greift jenes Motiv, dem Exkurs ins Innerste, in Silence (2016) auf. Im religiösen Kontext begeben sich zwei junge Jesuitenpriester nach Japan, um ihren Mentor aufzusuchen, der scheinbar der Apostasie verfallen ist. Wenn Gott schweigt, titelt der Spiegel. Passend. Denn auch auf dieser Reise wird nichts laut außer die eigene Stimme der Protagonisten.
Diese verstummt immer mehr, je näher sie ihrem Herz der Finsternis kommen: Die Konfrontation mit der Möglichkeit der eigenen Irrung. Oder: Ehemaliger Priester und Mentor Ferreira, der nun das Christentum verdammt und in buddhistischer Manier seine Schüler in Astronomie unterrichtet. Durch die Abkehr des Mentors zerfällt das Manifest des Glaubens beider Jesuiten, ihnen wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Mit dem Antrieb der Verleugnung dringen sie tief vor, begegnen dem wahren Problem, der innersten Angst. Der Furcht davor, was passiert, wenn Gottes Stimme ausbleibt.
Der Strudel des Todestriebs, dem die getriebenen Jesuitenpriester und auch Willard ausgesetzt sind, windet sich jedoch viel tiefer. Injiziert man nun die Identitätsproblematik, die Auflösung des Ichs und dessen scheinbarer Wiedererlangung, bietet sich filmhistorisch der Blick ins Jahr 1958 an: Vertigo von Alfred Hitchcock. Hier bekommt der an Höhenangst leidende Detektiv Ferguson den Auftrag, eine Frau zu beschatten, der er nach einem Sturz das Leben rettet. Er verliebt sich in sie. Doch die Jagd nach ihrer wahren Identität verkommt zu einer Abwärtsspirale ins Nichts. Die Erkenntnis, dass nach der Dekonstruktion einer Identität keine Rekonstruktion mehr möglich ist – ein Seitenhieb auf die Psychoanalyse ist hier nicht von der Hand zu weisen. Auch nicht und schon gleich nicht möglich in exkorporierter Form.
Ferguson versucht, nachdem er seine Liebe gescheitert sieht und die Frau seiner Träume nicht mehr da ist, Ersatz zu finden, der ihm entglittenen Person neues Leben einzuhauchen, indem er ihre Identität, ihr Erscheinungsbild, ihr Wesen auf ein anderes übertragen will. Dieser Drang ist nichts anderes als der Destruktionstrieb, wie Freud ihn beschreibt.
Ein Trieb, der sich durch durch Aggression äußert, sich gegen eben jene Person ausrichtet, die sich der Identitätsdoppelung nicht vollends unterwerfen kann, sich zwanghaft wehrt, da es in der menschlichen Natur liegt, ungeteilt, individuell als Ganzes, ja einzigartig auftreten zu wollen. Der Meisterregisseur greift diese Reise ins Herz der Finsternis symbolisch kongenial auf. Von diversen sich drehenden und zu einem Strudel verirrenden Bildern über einen Kameratrick von Robert Burks, der fortan als Vertigo-Effekt bekannt war und einen Kontrazoom beinhaltet: Der Fokus wird enger, doch der Hintergrund, das bisher so Vertraute, entgleitet dem Individuum und entrückt ins Ungreifbare.
Der Hoffnung, dass in diesem Herz, im Innersten von allem, nicht nur Schreckliches existiert, sondern auch jene Wünsche in Erfüllung gehen, die am sehnlichsten sind, geht der russische Filmphilosoph Andrej Tarkowski in seinem fünften Spielfilm Stalker (1978/1979) nach. In einer intentionell aufgespaltenen Trias begeben sich der Stalker, der Schriftsteller und der Wissenschaftler auf die Reise ins Geheimste und Innerste. Der Künstler sucht Eingebung, während der Forscher den angestrebten Raum zerstören will. Er will die Vernichtung aus Angst vor einem Missbrauch dieser Macht, die wiederum in der Vernichtung enden könnte.
„Was es war? Der Fall eines Meteoriten? Der Besuch von Bewohnern des menschlichen Kosmos? Wie auch immer, in unserem kleinen Land entstand das Wunder aller Wunder – die Zone.“
aus Stalker von Andrej Tarkowski
Auch Tarkowski bricht Weltanschauung auf, lässt seine Figuren zweifeln, in die Leere gleiten, sich auflösen. Und letztlich sind es weder Willard, die Jesuitenpriester, noch Ferguson, die das Herz der Finsternis in ein Organ der Erleuchtung umwandeln können. Es ist der Stalker, der Pfadfinder, der sich die Zone zueigen gemacht hat und sie zu einem Raum erhöht hat, der ihm nicht fremd ist, vor dem er sich nicht fürchten muss. Er schafft es so, der Finsternis zu entkommen und erreicht sein Ziel, wenigstens bezogen auf sein familiäres Dasein: den Menschen zur Hoffnung auf ein glückliches Leben verhelfen.