Der Film zeigt uns Situationen, die wir aus dem Leben kennen. Die erste Liebe. Das kaum zu bewältigende Chaos im Alltag. Andererseits gibt er uns die Möglichkeit, durch die Leinwand Räume zu betreten, die wir so wahrscheinlich nicht betreten würden. Besonders bei der Darstellung von Ausnahmesituationen schöpfen Filmemacher die gesamte Kapazität des Kinos aus und zeigen auf, was geschehen kann, wenn wir mal nicht aufpassen – Kriegsszenarien und Gemetzel, Familiendramen und Umweltkatastrophen. Es wird übertrieben; jedoch auch versucht, aufzuarbeiten, abzubilden und zu antizipieren. Wenn sich der geregelte Alltag plötzlich als Krise entpuppt, nähert sich unsere Welt der fiktionalen an und wir können aus Filmen lernen, denn oft wurden dort Probleme behandelt, die zu einem späteren Zeitpunkt die Realität bedeuteten.
Probleme also soweit das Auge reicht. Dem analytisch Herr zu werden, ist ein großes Unterfangen. So hat sich nicht nur die Filmwissenschaft die Psychoanalyse zu einem Werkzeug gemacht, auch andersrum ist dies geschehen. Geschichten, also Filme, und deren Akteure werden bereits dazu verwendet, um Patienten in ein Stadium des Therapieprozesses verorten zu können. So kann sich der Therapeut mit Blick auf die ihm bekannte Konvention eines Films fragen: „Wo befinden wir uns gerade?“ Daraus kann er Schlüsse ziehen und in Bezug auf die fiktionale Figur und deren Entwicklung in den Raum stellen, was womöglich dem Patienten zu seiner Genesung verhelfen wird. Und da (gute) Filme meist um Glaubhaftigkeit bemüht sind, was mit einer realistischen Charakterzeichnung einhergeht, dienen sie sehr wohl zur Orientierung.
Filmisches Schaffen
Doch wir brauchen dieses therapeutische Umfeld nicht, um dem Film etwas entnehmen zu können, das unserem Alltag Struktur bringen oder als Handlungsoption dienen kann. Der Blick auf den Film kann mit einem geübten Auge der Blick in die Zukunft bedeuten, aber auch in eine Realität, die wir nicht als solche anerkennen wollen. Und auch Ausnahmesituationen, die wir entweder ganz persönlich wahrnehmen oder von globalem Ausmaß sind, können privat von der Couch aus betrachtet werden, ohne direkt involviert zu sein. Durch das Schauen von Filmen erschließen sich uns Relationen, über die wir ohne den fiktionalen Kontext nicht verfügen würden. Oft ist die Realität und deren Abbildung irrealer als uns bewusst ist und die Fiktion wirkt dieser Realitätsverschiebung durch Realitätsabbildungen aus ihrer Sicht entgegen. Aber nicht alle Menschen würden diesem möglichen Erkenntisgewinn aus Filmen beipflichten und womöglich sagen, dass sie aus Langeweile oder einfach nur zum Spaß ins Kino gehen oder Netflix anschalten. Um der Diskussion über einen Film ihre Bedeutung abzuerkennen, hört man von weniger Interessierten auch oft den Satz „das ist doch nur ein Film“. Der Wirkungsgrad der Fiktion ist offenbar nicht immer gleich hoch. Es stellt sich die Frage, ob es so etwas wie ein richtiges Filmeschauen gibt? Gar eine Kunst einer Sichtung?
Anlässlich seines 40. Todestages sehen wir uns zu diesem Thema an, was Jean-Paul Sartre in seiner Schrift zum Intellektuellen als Schriftsteller gesagt hat. Dabei spricht er nicht nur diesem die höchstmögliche Freiheit zu, sondern auch dem Leser: „Die Lektüre ist gelenktes Schaffen.“ Das heißt, der Schriftsteller gibt dem Leser seine Einordnung der Welt zur Hand, um mit ihm einen Pakt der uneingeschränkten Freiheit und Zustimmung auf künstlerischer Basis zu schließen. Mit der Interpretation steht dem Leser der Akt des Schaffens zu und ist durch das Einverständnis des Autors in der Lage, sich in völliger Freiheit zu bewegen, also künstlerisch zu wirken. Bedeutet das auf den Film bezogen, dass auch das Schauen eines Films gelenktes Schaffen ist und somit eine Kunst für sich darstellt?
Da wir uns in Sartres Darstellung ipso facto mehr als irgendwo sonst der Freiheit frönen, soll dieser Fertigkeit nichts mehr im Weg stehen. Der Film ist eine Fortführung der literarischen Idee, denn er ensteht aus dem verschriftlichten Konstrukt des Künstlers, dem Drehbuch. Er ist eine Fleischwerdung sozusagen, dem nach dem österlichen Trubel eine fast schon messianische Bedeutung beikommt. Dem Film eine Erlöserfunktion zuzusprechen, wäre übertrieben, aber er kann mit dem richtigen Werkzeug durchaus als humanistischer Fundus dienen, auf den wir in Zeiten der Unsicherheit und auch im Frieden zurückgreifen sollten.
Der Film aktiviert, er lässt entstehen. Wir kreieren Texte, führen Diskussionen, die referenziell, erörternd, expandierend, erklärend, einordnend oder sich selbst erklärend sind. Warum Texte über den Film schreiben, während die Frage im Raum steht, warum wir Filme schauen? Die Antwort: Eines kann nicht ohne das andere. Über den Film schreiben, bedeutet, den Freiraum einzunehmen, den uns der Regisseur einräumt. Wie wir uns mit dem Werk auseinandersetzen, liegt an uns, an den Zuschauern. Der Film schafft es, uns zu begeistern. Nun ist es an uns, aus dem Film Eigenes zu schaffen.
Der Film als Massiv
Und doch gilt es, vorsichtig zu sein. Denn gerade in Krisenzeiten tendieren wir dazu, die Krise zu dekonstruieren und die eigene Ordnung in Frage zu stellen. Wir sollten den Film nun nicht dazu verwenden, mit seiner Struktur die eigene aufzubrechen. Stattdessen sollte er als Massiv fungieren, das unerschütterlich ist in seiner Organisation. Dabei ist nicht die Aussage eines Films gemeint oder gar die stets divergierende Wertevermittlung, oder Ideologie. Es geht um den Film als eine Existenz im menschlichen Alltag, der einen Rahmen schafft, den großen Anderen, der uns strukturiert und ausrichtet, die Konstante, auf die wir uns nicht nur verlassen, sondern auch freuen können. Wie Slavoj Žižek kürzlich in einer Kolumne der NZZ schrieb, darf er sogar über die Gewohnheit hinaus als Fetisch ausgelebt werden. Die tägliche Sitcom, die Rom-Com am Abend, aber auch dystopische Szenarien wie Resident Evil und Contagion können karthatisch wirken, eben diese Relation herstellen, die in der Realität und vor allem den Social Media-Kanälen abhanden kommt.
Die Wirkungsgeschichte des Films ist allgegenwärtig und deren Phänomene und Konsequenzen direkt zu beobachten. Die Marvel-Filme nehmen kein Ende, wir sehnen noch immer nach Helden. Der Fortsetzungswahn bleibt, wir wollen zurückkehren in bekannte Welten, Nostalgie verspüren und uns in das Paradies zurückziehen, aus dem wir verstoßen wurden. Der Film bietet also nicht nur Prognosen, Lösungsmöglichkeiten und kreativen Raum, sondern kann auch als Rückzugsort dienen. Mit der richtigen Skalierung erfahren wir im Film geografische und zeitliche Allgegenwärtigkeit und können womöglich Tarkowskis Wunsch für den Zuschauer erfüllen, indem wir nicht nur schauen, sondern sehen.