Der neue Film von Brandon Cronenberg ist ein Brett. Er wagt sich unter die Oberfläche des Greifbaren und zeigt: Von diesem Filmemacher dürfen wir in Zukunft noch einiges erwarten.
Von Jonathan Ederer
Brandon Cronenberg kreiert mit seinem zweiten Film Possessor ein Meisterwerk. Vielseitig, verstörend, zermürbend und durchgestylt. Ein Film, der die scheinbar unbegrenzte Macht des Bodyhorrors entfesselt und neue Maßstäbe setzt.
Der Plot ist denkbar simpel: Tasya Vos (Andrea Riseborough, Nocturnal Animals) ist eine professionelle Attentäterin einer Organisation, die Gehirn-Implantat-Technologie dazu verwendet, die Kontrolle über fremde Körper zu übernehmen. So kommt sie ihren Zielen, die meist einen hohen Bekanntheitsgrad besitzen, relativ einfach näher und kann sie eliminieren. Ihr aktueller Auftrag katapultiert sie in Colins (Christopher Abbott, It Comes at Night) Körper. Das Problem dieses Mal: Je länger sie in ihm ist, desto tiefer versinkt sie in seinem Körper. Vos ist dort gefangen mit einem Geist, der sie auszulöschen droht.
Stilsicher zur Fortsetzung?
Brandon Cronenberg liefert ein stilistisches Brett ab, als hätte er sein ganzes Leben lang nichts anderes gemacht als lose Leiblichkeit in Form gebracht. Die Chancen stehen natürlich gut, dass das auch so ist. Vielleicht muss man als Sohn des großen David Cronenberg Fliegen zum Frühstück essen und sich zum Einschlafen Videodrome ansehen.
Die Sicherheit, mit der Cronenberg auch dramaturgisch durch den Film manövriert, ist an sich schon angsteinflößend. Eine große Inspiration sei Opera von Dario Argento gewesen. Dort werden Körper und Augen im Speziellen ähnlich geschunden wie in Possessor. Cronenberg sagt, dass viele Szenen, die gedreht wurden, nicht im Film zu sehen sind. Es sei sogar möglich, dass daraus ein Nachfolger entsteht.
Leiblichkeit und Brutalität
Doch auch ohne dieses Zusatzmaterial schafft er es, den Horror auf eine besonders subjektive Ebene zu heben. Es geht an die Substanz des Menschen. Hier sind keine Jumpscares mehr nötig, um den Zuschauer zu schocken. Der ist mit seiner Leiblichkeit nämlich selbst Gegenstand des Films. Die Brutalität, mit der auf die Körper der Figuren eingewirkt wird, ist schockierend und faszinierend zugleich.
Dass die Körper einerseits zentrale Gegenstände des Films sind und zugleich derart schonungslos bis zur Unkenntlichkeit deformiert werden, macht beim Zusehen eine Heidenangst. Dank handgemachter und wohl dosierter computergenerierter Effekte wirkt dieser Hochglanz-Body-Horror so real, dass es weh tut.
Plastischer Body-Horror
Selten wurden abstrakte Gedanken, die so tief in das Innerste der menschlichen Existenz, dem Horror schlechthin, vordringen, so klar und analog in plastische Darstellung umgewandelt. Die Attentäterin Tasya Vos wird zum Gott aus der Maschine, der nicht die Gedanken seiner Marionetten beherrscht, sondern vielmehr ihre Körper für seine Zwecke verwendet. Sie wird zum rachsüchtigen Gott, der die nichtsahnenden Menschen zu dem macht, was er im Innersten befürchtet zu sein: Eine fremdgesteuerte, für einen unbekannten Zweck verwendete Form.
In die Riege der Schauspieler reihen sich Größen wie Sean Bean (Die Insel) und Jennifer Jason Leigh (Twin Peaks). Sie alle ordnen sich der Idee des Regisseurs unter, agieren dezent und brillieren durch ihre Gelassenheit, die ob des Gewaltgrades ebenso absurd wie angsteinflößend ist.
Phänomenales Genre-Kino
Possessor ist ein hartes Stück. Phänomenal wie phänomenologischer Gegenstand. Er dringt unter die Oberfläche des Greifbaren und des Wahrnehmbaren. Er macht innere Konflikte sichtbar und scheint sogar selbst ein Stückweit Besitz vom freien Willen des Zuschauers zu ergreifen, indem er ihn zwingt, sich solch undenkbaren Szenarien auszuliefern.
Zugegeben, den Kinosaal verlassen oder das TV-Gerät ausschalten kann man immer. Doch bei diesem Film sollte man unbedingt dranbleiben: Kein Grusel, kein Spuk – purer Horror in einer Form, die jeden Menschen umgibt, ihn sogar als solchen ausmacht, der er ist: dem Körper.
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