Ein exzellentes Drehbuch, vielschichtige Stoffmotiven, gekonnt realisiert durch die Darsteller: Céline Sciamma komponiert einen modernen Klassiker und schafft ein Meisterwerk auf vielen Ebenen.
Von Felix Marx
Frankreich 1770. Die Malerin Marianne (Noémie Merlant) reist auf eine ebenso schöne wie einsame und raue Insel in der Bretagne, wo sie auf Geheiß einer italienischen Gräfin (Valeria Golino) ein Portrait von Héloïse (Adèle Haenel), der Tochter der Gräfin, zum Zweck der Brautschau anfertigen soll. Héloïse will sich jedoch dem Portrait und somit auch der Hochzeit mit einem unbekannten Mailänder Adeligen verweigern, ebenso, wie ihre kurz zuvor verstorbene Schwester dies tat. Daher ist die als Gesellschafterin getarnte Marianne gezwungen Héloïse auf gemeinsamen Spaziergängen zu beobachten, um heimlich doch ein Porträt anfertigen zu können, wobei sich die beiden immer intensivere Blicke zuwerfen und sich allmählich näher kommen.
Diese Blicke sind dabei von den beiden Hauptdarstellern nicht nur hervorragend gespielt (besonders Adèle Haenel verdient ein Extralob), sondern knüpfen thematisch direkt an den Mythos von Orpheus und Eurydike an, auf welchen im Verlauf des Films immer wieder Bezug genommen wird. So diskutieren die beiden Liebenden gemeinsam mit Sophie (Luàna Bajrami), der Dienerin des Hauses, warum sich Orpheus nach Eurydike umblickte und sie so für immer verlor.
Arbeit am Mythos
Wenngleich der Mythos mit der Geschichte von Héloïse und Marianne parallelisiert wird, fällt Sciammas Neuinterpretation dabei jedoch selbstbestimmter und weniger fatalistisch aus. So bietet die Kunst, in diesem Fall Porträts, durch das Festhalten des Augenblicks immerhin eine Erinnerung an die flüchtigen Augenblicke miteinander. Marianne kommt in der Diskussion letztlich für sich zu dem Schluss, dass Orpheus die Entscheidung eines Poeten traf und lieber die Erinnerung an die Liebe, als die Liebe selbst wählte.
Neben diesen offensichtlichen Anleihen aus dem Eurydike-Mythos, zitiert die Regisseurin Céline Sciamma stilsicher weitere Sujets aus Kunst, Literatur und Musik. So erinnern die oftmals nur durch Feuer ausgeleuchteten Kameraeinstellungen an zeitgenössische Gemälde, ähnlich wie es schon bei Stanley Kubricks Barry Lyndon (1975) der Fall war. Des Weiteren bedient Sciamma, die französische Literatur studierte, in Person der Protagonistin Héloïse ein weiteres Stoffmotiv der Literaturgeschichte. So ist Helosia auch der Name einer berühmten mittelalterlichen Äbtissin (auch Sciammas Héloïse war zunächst im Konvent), welche nach einer heimlichen Liebesaffäre gegen ihren Willen zwangsvermählt wird. Auf dieses Stoffmotiv wiederum nahm auch Jean-Jacques Rousseau mit seinem Briefroman Julie oder Die neue Heloise (1761) Bezug, dessen zeitliche Nähe zur Handlungszeit des Films wohl nicht von ungefähr kommt und der als ein Plädoyer für die Liebesehe zu verstehen ist.
Auch ein Film über die Freundschaft
All diese Stoffmotive zitiert Sciamma nicht nur, sondern spinnt sie konsequent weiter. Neben der bereits angesprochenen Abschwächung des mythischen Fatums ist die augenscheinlichste Veränderung dabei sicherlich die Feminisierung der Vorlagen. So treten im Film bis auf wenige Ausnahmen keine männlichen Charaktere auf. Sciamma erschafft sich so mit der einsamen Insel einen Handlungsraum in dem nur die Frauen miteinander interagieren. Wenngleich auf Ungerechtigkeiten hinweisend (z.B. das Verbot zum Malen männlicher Aktmodelle für Frauen), wird das Männliche wie etwa in Person des Mailänder Adeligen jedoch nicht dämonisiert. So gibt Héloïse auf Nachfrage zu, dass sie nichts Schlechtes über den Fremden weiß und sich vor allem vor dem Unbekannten fürchtet.
Vielmehr ermöglicht die strikte Fokussierung auf die Frauen eine bessere Erforschung und Ausdifferenzierung der Charaktere. Neben Héloïse und Marianne wird dies an der Dienerin Sophie sowie der Gräfin deutlich. Denn wenngleich die Liebesgeschichte von Marianne und Héloïse unbestreitbar den erzählerischen Kern der Geschichte bildet, stehen die anderen weiblichen Charaktere doch gleichberechtigt neben ihnen. So erzählt der Film auch von der Freundschaft Sophies mit den beiden Liebenden und den Sehnsüchten der italienischen Gräfin nach ihrer Heimat, was ihr Beharren auf die Heirat nachvollziehbar und sie nicht zu einer typischen Antagonistin macht.
Den Höhepunkt dieser Darstellung einer „Frauengemeinschaft“ findet sich in der Mitte des Films, als die Frauen der Insel miteinander zu einem mythisch anmutenden Gesang anmuten, welcher nicht nur das Liebespaar, sondern wohl auch die meisten Zuschauer in seinen Bann zieht. So verzichtet Sciamma bis auf zwei weitere Ausnahmen vollständig auf Filmmusik, was die jeweiligen Szenen umso intensiver und zu den emotionalen Höhepunkten des Films macht.
Implizit und konsequent
Passend zu den langen Kameraeinstellungen und der ruhigen Atmosphäre verzichtet der Film auf explizite Sexszenen wie etwa in Blau ist eine warme Farbe (2013), schafft es aber dennoch durch das exzellente Minenspiel der beiden Hauptdarstellerinnen und die eindringlichen Bilder eine sinnliche Atmosphäre zu schaffen, welche gut zu den zahlreichen abendlichen Gesprächen der Frauen bei Rotwein, Käse und prasselnden Kaminfeuer passt.
Letztlich besticht das Porträt einer jungen Frau in Flammen, ein Film, der auf große Überraschungen und Enthüllungen verzichtet, vor allem durch ein exzellentes Drehbuch (ebenfalls Sciamma), vielschichtigen Stoffmotiven, gekonnt realisiert durch die Darsteller. Darüber hinaus schafft es Sciamma trotz oder gerade wegen des äußerst sparsamen Einsatz von Filmmusik für einige der eindringlichsten musikalischen Filmmomente der letzten Jahre zu sorgen, die sich ins Gedächtnis einbrennen und in den Köpfen der meisten Zuschauern noch lange nachhallen werden.