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Augen ohne Gesicht

Von Jonathan Ederer

Oder zu Deutsch: Das Schreckenshaus des Dr. Rasanoff. Als das französisch-italienische Schauermärchen Anfang der 60er uraufgeführt wurde, kam es wohl zu einigen der heutzutage ominösen Ohnmachtsanfälle, die den Weg des Horrorgenres in seiner Anfangszeit pflasterten. Verhüllte Spiegelmotive, entstellte Gesichter, Cadillac trifft Frankenstein. Ein filmisches Nachtstück, das auch 2020 die Wichtigkeit seines Daseins erkennen lässt, in der Durchführung jedoch inkonsequent wirkt und schlecht gealtert ist.

Und das, obwohl Dr. Rasanoff (übrigens nur in der deutschen Synchronfassung so genannt, ansonsten Dr. Génessier) es bisher geschafft hat, den Verfallsprozess einiger seiner Mitbewohner zu stoppen. Nicht nur seinen Hunden hat er erfolgreich ein neues Gesicht gegeben, auch seiner treuen Assistentin Louise transplantierte er einst die Visage. Doch als er eines Tages einen Autounfall verursacht, aus dem seine Tochter Christine schwer entstellt hervorgeht, stößt er an die Enden seiner chirurgischen Kapazitäten. Er beschließt in Paris Frauen nach christianischem Muster zu finden, deren Gesicht zu entfernen und es seiner geliebten, mittlerweile verhüllten Tochter zu verpflanzen.

Hier muss das Hässliche unterbunden werden. Während Christine mit nicht nur mit ihrer Erscheinung, sondern auch mit ihrem mordenden Vater hadert, bleibt das Dilemma des Identitätsverlustes, das klar an das Gesicht gekoppelt ist. Sie wandelt durch das mittelalterliche Anwesen, gekettet an die Gunst von Vater und Louise, ist sich ihrer Identitätskrise bewusst, obwohl alles getan wird, um dies zu verhindern. Die Spiegel werden verhüllt, damit sie sich und ihr Nichtvorhandensein nicht betrachten kann. Und auch sie trägt eine Maske und so bleibt ihr nichts anderes, als ein Phantom zu bleiben. In der Hoffnung auf das passende Profil, das ihr zugetragen werden kann, sie aber aus eigener Kraft nicht formen kann.

Es sterben Studentinnen, sie müssen der Identitätsbildung von Christine weichen und doch versucht sie mit aller Kraft, Vielfältiges aus ihrer Maskerade zu machen. Tatsächlich ist auch sie derjenige Charakter in Georges Franjus Mär, die zum Zuschauer aufschließt, ihm einen Rettungsring in diesem schwarz-weißen Strudel der Unumkehrbarkeit zuwirft. Es gibt eine Szene, die damals 1960 auf besonders viel Ekel stieß. Eine Szene, die das Gesicht einer in die Falle getappten Studentin seziert. Der Doktor entfernt das Profil sorgfältig und fügt diese Lamelle auf Christines Rudiment. Doch die Lamelle entpuppt sich als unpassend, sie verfällt und kann nicht als Ersatz dienen. Das ursprünglich blühende Leben, das die Welt mit diesem Gesicht betrachtet, in den Pariser Cafés Heißgetränke zu sich nahm und in die Kinos der Stadt ging, ist mit dem Akt der Umsiedelung verwirkt. Eine Christine nicht innwohnende Identität, die mit Auftreten, Interesse, Moralkompass, ja dem gesamten Habitus samt sozialer und kultureller Basis einhergeht, wird abgestoßen und verdrängt. Es kommt zur Erkenntnis:

Kein Gesicht der Welt kann mir stehen und ist es mir noch so ähnlich, wenn es nicht mein eigenes ist.

Augen ohne Gesicht schafft Grundlagen, bedient sich bei Dorian Gray, vermischt das vom Existenzialismus des 20. Jahrhunderts geprägte Frankreich mit dem des in E.T.A. Hoffmans Nachtstücken so präsente romantisch-schaurige Pochen der Großstadt. Es bleibt dem Zuschauer verwehrt, was daraus hätte werden können, wenn konsequent in eine Stilrichtung zu Ende gedreht worden wäre. Doch es ergibt sich nichts, das sich wie aus einem Guss betrachten lässt. Das Gefühl des Schauderns stellt sich genauso wenig ein wie Antizipieren, was die nächste Szene bringt. Es bleibt eine Aneinanderreihung von Szenerien, der eine tolle Idee innewohnt. Diese wurde aber genau wie die Gesichter der zahllosen Mädchen seziert und fügt sich nun nicht mehr dem Gesamtbild, dem Gesicht des Horrors, der Identität eines Klassikers.


Titelbild © 2009 Concorde Home Entertainment