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Amulet

Wie grauenvoll und unangenehm die ständige Präsenz einer Urangst sein kann, beweist die Britin Romola Garai mit ihrem Debütfilm Amulet, der auf dem Fantasy Filmfest 2020 laufen wird. In einem verfallenen Haus am Rande Londons wird nichts Geringeres ausgefochten als der Kampf von Gut gegen Böse.


Von Jonathan Ederer

Es scharrt an der Tür. Sanft, mal langsam, dann wieder schneller und intensiv. Dann poltert es und ein entsetzlicher Schmerzensschrei geht durch Mark und Bein. Nachdem Ex-Soldat Tomaz (Alec Secăreanu, God’s Own Country) in London gestrandet und nach kurzer Obdachlosigkeit im verfallenden Haus von Magda (Carla Juri, Blade Runner 2049) untergekommen ist, muss er sich täglich derartiger Sinnesfolter aussetzen.

Die ruhige, aber aus einem zunächst nicht offensichtlichen Grund eingeschüchterte Magda erklärt Tomaz, dass dort unter dem Dach ihre Mutter wohnt. Doch nach einer unfreiwilligen Kontaktaufnahme wird klar, dass das hexenartige Geschöpf so gut wie keine Mütterlichkeit mehr in sich trägt. Welcher Alptraum tatsächlich hinter der Tür zum Dachboden lauert, findet Tomaz nur langsam und unter unmenschlichen Qualen heraus.

Ein abgekartetes Spiel?

Amulet, der Anfang 2020 auf dem Sundance Filmfest Premiere feierte, wurde von der Kritik sehr gespalten aufgenommen. Das teilweise seltsam laienhaft wirkende Schauspiel verwirrt manchmal derartig, dass es wahrscheinlich so manchen Zuschauer aus der Geisterbahn wirft. Andererseits gesellt sich das ehemalige Mitglied der Royal Shakespeare Company Imelda Staunton (Harry Potter und der Orden des Phönix) zum Cast hinzu und wertet die Präsenz aller Figuren allein mit ihrer eigenen auf.

Sie selbst spielt Schwester Clair aus einem benachbarten Kloster, die Tomaz mit Rat zur Seite steht und ihn nach seinem Kriegstrauma  auch an Magda vermittelt. Schätzt man Schwester Clair anfangs noch als Menschen ein, der nur aus Nächstenliebe handelt, macht es nach und nach den Anschein, dass alles nur ein abgekartetes Spiel ist, in dem die Nonne eine tragende Rolle spielt.

Bildquelle: Amulet © 2020 Ascot Elite Entertainment Group

Wirft man einen Blick auf das offizielle Cover von Amulet, gibt es einen Hinweis darauf, dass es die fromme Schwester selbst ist, die einen Konflikt inkorporiert. Der endlose Kampf zwischen Gut und Böse bleibt hier nicht abstrakt, er wird konkret in einer Momentaufnahme gezeigt. Die zwischenmenschlichen Konflikte im Haus dienen dabei der Veranschaulichung. Dämonische Fledermäuse, Ausgeburten der Hölle, Blasphemie, Umkehrung religiöser Muster und gängiger Geschlechterkonventionen. Es gibt viel zu sehen – auch zwischen den Ebenen in diesem morschen Haus des Schreckens.

Genderdebatte auf Horrorbasis

Die Sprengung des Sexus gewinnt im Laufe des Films zunehmend an Bedeutung. Tomaz, der nach den Wirren des Krieges und seiner eigenen Verbrechen zunächst nicht mehr zu einer sexuellen Beziehung in der Lage zu sein scheint, steht im Zentrum dieses Motivs. In Rückblenden sieht man, wie er bereits in der Vergangenheit sexuelle Ohnmachtsgefühle gegenüber einer Frau verspürt hat, die nicht bereit war, sich auf ihn einzulassen. Diese Ohnmacht entlädt sich schließlich in einer Gewaltexplosion.

Die Geschehnisse im Haus greifen diese Erlebnisse auf und es entsteht eine Genderdebatte auf Horrorbasis. Produzent James Wilkinson beschrieb den Film nicht zu Unrecht schon während des Entstehungsprozesses als „feminist horror“. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, denn es lohnt sich wirklich, Romola Garais Herangehensweise an die Genderdebatte jungfräulich zu betrachten, nur so viel vorneweg: Es wurde noch selten so radikal und brutal mit einem eigentlich feststehenden Geschlechterverständnis gebrochen.

Die Erzählweise ist derweil eigen und recht sperrig – jedoch nicht im negativen Sinn. Vor allem Magda verhält sich oft schizophren. Dieser Charakterzug stellt sich aber im Laufe der Geschichte als kohärent heraus, denn das Verhältnis, das sie mit ihrer Mutter unterm Dach, führt, ist der Ursprung ihrer unbeständigen Charakterzüge.

Kein gescheitertes Hereditary-Imitat

Ihr Zusammenspiel mit Tomaz, der ja auch mit eigenen Dämonen zu kämpfen hat, kann also gar nicht stimmig sein, ein normales Verhältnis ist unmöglich – der Gedanke kommt auf, dass jenes hölzerne Schauspiel eigentlich ein tolles ist. Ein zerrüttetes Verhältnis, das erst einmal nicht gleich greifbar ist, ist wahrscheinlich schwieriger zu simulieren als leicht zu verortende Charaktere.

Amulet ist zutiefst schockierend und innovativ. Schon in ihrem Debüt lässt Regisseurin Romola Garai eine eigene Handschrift erkennen. Den Vorwurf, nur ein weiteres gescheitertes Hereditary-Imitat zu sein, muss sich der Film nicht gefallen lassen. Er ist stilsicher, dekonstruierend und die Tonalität wechselt stimmig zwischen Suspense und Brachialität. Es sind Bilder auf der Leinwand zu sehen, die man nicht mehr vergisst, Schmerzen fühlbar, die man sich nicht hätte vorstellen können, und nicht zuletzt wird ein Statement gesetzt, das für einen Debütfilm wirklich mutig ist.


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