Von Jonathan Ederer
Man muss diesem Marvel-Kosmos ja eines lassen. Er ist kohärent. Kevin Feige hält das Ganze am Laufen und beweist auch beim in den 90ern angesiedelten Captain Marvel mit Brie Larson in der Hauptrolle, dass er den roten Faden noch in den Händen hält. Auch wenn man in der ersten halbe Stunde Mühe und Not hat, diese eigentlich sehr langweilige Figur in ein Abenteuer zu katapultieren, das der Zuschauer auch sehen will, bleibt ein solider Film der durch die übliche Nostalgieschule geschickt wurde, zwar überhaupt nichts Neues zu bieten hat, aber immerhin ein paar charmante Settings.
Carol Denvers heißt sie, die neue Frau im MCU. Bevor sie zum Captain wurde, war sie Pilotin auf der Erde und wurde nach einer gescheiterten Mission von keinem geringeren als Jude Law für ein Eliteprogramm auserwählt. Man sieht sie kämpfen und straucheln, doch in Wirklichkeit haben die Macher ein Problem, das von Anfang an deutlich ist: Hier muss ein OP-Charakter eingeführt werden, um das Endgame noch zum Guten wenden zu können. Sie versuchen es mit der üblichen Nummer, coolen Songs, flapsigen Sprüchen, doch mit Figuren, die man noch nie gesehen hat, funktioniert das ganz selten auf Anhieb. Es sind noch keine Guardians vom Himmel gefallen und da wirkt es schon verzweifelt, wenn Djimon Hounsou in selbstüberhöhender Manier auf Dave Bautista macht. Entschieden hat man sich diesmal für das Jahrzehnt des Michael Jordan-Kellog’s-Grunge-Popkultur-Post-Top Gun-Stickersammelns. Warum? Die anderen hat man fast alle durch. No Doubt und Whole, Videotheken und Trolls. Es werden alle Register gezogen. Manchmal passend, doch oft missraten und peinlich („I’m only happy when it rains“ während Cap bei strahlendem Sonnenschein auf dem Motorrad durch die Gegend fährt?)
Was sehr positiv auffällt, ist die digitale Verjüngungskur, die an Samuel L. Jackson als Nick Fury vollzogen wurde, die zugleich die Frage aufwirft, was bei Irishman so schief gelaufen ist. Auch Ben Mendelsson liefert ab und macht aus seiner vermeintlichen Bösewicht-Rolle, die er ja bei Ready Player und auch Rogue One schon zum Besten gab, einen vielschichtigen Charakter, der leider über eine zu lange Screentime nur hinter einer Maske auftritt. Einzig Jude Law erschließt sich im Actionkontext nicht. Er war im miserablen Spy (2015) ein unpassendes Ensemblemitglied und auch hier will man ihn eigentlich nur zurück ins verregnete London schicken.
Im Mittelteil kommt dann tatsächlich Atmosphäre auf. Einige ruhige Momente zeigen Carol Denvers mit ihrer besten Freundin Maria und deren Tochter Monica im Vorgarten sitzen, wie sie weder abgehoben noch unnötig wirkende Gespräche führen. Das ist nicht selbstverständlich im MCU. Die Dialoge bleiben natürlich flach, aber es wird sich wenigstens um Chemie bemüht. Das kippt dann leider, wenn es in Richtung Schlusssegment geht. In einer Vision begegnet Carol ihrer Ausbilderin, entkoppelt sich unter der Stimme von Kurt Cobain von dem Chip im Nacken, der sie und ihre Superkraft bisher hemmte und zeigt ihr wahres Ich: ein Charakter, so overpowered, dass es ab diesem Zeitpunkt ausgeschlossen ist, auch nur ein wenig emotional involviert zu sein. Mit Captain Marvels Triumph über die Schwerelosigkeit verlieren Film und Figuren jegliche Fallhöhe und ein CGI-Overkill nimmt seinen Lauf.
Eine wichtige Rolle nimmt der Tesserakt ein, einer der sechs Infinity-Steine, hinter dem Ronan, der Ankläger, noch ein paar Jahre später in Guardians of the Galaxy her sein wird. So fügt sich aufs Neue alles zusammen. Die Infinity-Reihe, das große Ganze, Thanos und sein Plan der ultimativen Herrschaft. Leider mal wieder viel zu überladen, als dass die Möglichkeit eines bleibenden Eindrucks bestünde. Bis auf wenige Sequenzen ist da nicht viel. Pulsierende, computeranimierte Adern, die aus Captain Marvels Körper schießen. Ihre Emanzipation bekommt der Zuschauer dermaßen frech in seinen Popcorneimer platziert, dass nun auch die letzte Hoffnung auf Subtilität im MCU aufgegeben werden kann. Die schillernde Oberfläche bleibt Nostalgie und Ironisierung, öffnet man die Fonzie-Lunchbox, befindet sich darin alles andere als Fortschritt und Emanzipation. Es wird erneut zurückgeblickt. Zurück in eine Zeit der „Happy Days“, eine Serie aus den 70ern und 80ern, die selbst dort in den 90ern schon nicht mehr ist als bloße Nostalgie, bloße Referenz.
Unterhaltsam und teilweise charmant im Mittelteil, rundum zu viel, zu laut, zu Marvel. Bei all den Anspielungen, die einem um die Ohren fliegen, bleibt nur die Erkenntnis, nach einmal Ansehen doch in seine eigene Nostalgiekiste zu greifen. Denn hier kann man sich noch zwischen Top Gun, Point Break und Terminator entscheiden und wird nicht von Chefkoch Feige dazu gezwungen, alles auf einmal zu schlucken.
Titelbild © 2019 Walt Disney Studios Home Entertainment