„Smother“ ist sein erster großer Film. Ein Horrorfilm, der auf dem zehnten Hardline Filmfestival in Regensburg zum ersten Mal auf internationaler Bühne aufgeführt worden ist. Vor der Premiere ist Achmed Abdel-Salam angespannt, denn „Smother“ ist ein sehr persönlicher Film. Ob er beim Publikum ankommt, entscheidet auch über die künstlerische Zukunft des österreichischen Regisseurs.
Gerade läuft eine der letzten Szenen von „Smother“, da bewegt sich plötzlich etwas vorne links im Saal des Regensburger Ostentorkinos. Es ist Ostersamstag 2023, kurz vor 19 Uhr und der Raum ist erleuchtet von dem hellen, saftig-gelben Sonnenblumenfeld auf der Leinwand, das im Film so etwas darstellt wie den Begegnungsraum der Protagonistin mit ihren eigenen Dämonen. Hell, denn zu diesem Zeitpunkt ist im Film das Schlimmste schon überstanden. Naja, für das Publikum zumindest.
Nur Millisekunden später nimmt die Bewegung neben der Leinwand Konturen an: Erst der Kopf, dann der Körper und als die Schattensilhouette eines Mannes mit wuscheligem Haar und ziemlich hohem Jackenkragen zu erkennen ist, scheint sich im Publikum kaum jemand dafür zu interessieren – nach diesem gruseligen Psychogramm einer Alkoholikerin sind die meisten mit sich selbst beschäftigt.
Kaum jemand nimmt den Mann wahr, der auf knapp zwei Metern mit kleinen Schritten auf und ab schlurft, zwei, dreimal auf die Leinwand schaut und sofort danach wieder ins Publikum. Irgendwie so, als wolle er die Sonnenblumenszene im Film mit der Reaktion des Publikums abgleichen. Irgendwie so, als ob das Schlimmste doch noch bevorsteht. So, als ob er sichergehen will, dass die Menschen auch wirklich noch hinsehen.
Bevor Achmed Abdel-Salam wieder hinter der Leinwand verschwindet, wirft er nochmal einen hastigen Blick ins Publikum, das gerade einen Film sieht, den er selbst schon zigmal gesehen hat. Ein Film, der hier in diesem Moment internationale Premiere feiert. Vor allem aber ein Film, den Abdel-Salam auswendig kennt, weil es sein eigener Film ist: Sein Film „Smother“, „Heimsuchung“ im deutschsprachigen Vertrieb, an dessen Drehbuch er im Januar 2016 zu schreiben begann und von dem er bald wissen wird, wie er den Leuten gefällt.
Nur noch ein paar Minuten. Applaus? Werden sie ihn ausbuhen? Abwarten. Noch kurz hinter der Leinwand in Deckung gehen.
Es begann in einer Videothek
Sieben Stunden vorher, Luftlinie ein paar hundert Meter vom Ostentorkino entfernt im Andreasstadel, einem Bollwerk von einem Haus, das an der Donau im Regensburger Stadtteil Stadtamhof steht. Zwei Kinosäle gibt es dort, außerdem ein Hotel und ein Restaurant, in dem Abdel-Salam auf einer roten Couch sitzt. Die Jacke trägt er offen und um seinen Hals hängt ein rotes Band, auf dem ein paar Mal „Hardline Film Festival“ zu lesen ist.
„Viele Filme habe ich schon viel zu früh gesehen“, antwortet er auf die Frage, warum sein Debütfilm ein Horrorfilm geworden ist. Mitte der 1990er Jahre hätte es begonnen, sagt er. Abdel-Salam ist da ungefähr acht Jahre alt gewesen und seine Eltern haben in Wien eine kleine Videothek betrieben.
„Da konnte ich mich frech, wie ich wollte, im Regal bedienen.“
Die Filme von Tim Burton habe er geliebt – vor allem „Beetlejuice“, einem herrlich verrückten Film mit Michael Keaton in der Hauptrolle. „Alles, was morbid ist und mit dem Unheimlichen spielt, hat mir schon immer sehr getaugt“, sagt Abdel-Salam. Ja, mit dem Horror da sei er aufgewachsen.
Bevor er das Drehbuch zu „Smother“ schrieb, habe er sich gefragt: Was macht Alkoholsucht mit einer Familie? Und dann: Was kann der Horror? Tief menschliche Themen aufgreifen, das kann der Horror zum Beispiel. So viel erzählen könne man in dem Genre – und das, ohne dass es ausgesprochen werden muss.
Anders ist das mit einem Sozialdrama – ein solches hätte „Smother“ nämlich ursprünglich werden sollen. Beim Schreiben habe der 39-jährige Wiener dann aber gemerkt, dass das nicht funktioniert. Die Gefahr sei zu groß gewesen, dass er seine Figuren mehr ausstellt als porträtiert:
„Ich wollte den Blick von außen vermeiden.“
Und das ist ihm gelungen. „Smother“ ist ein einfühlsames Gruselstück geworden, das durchaus noch Züge des Sozialdramas aufweist, deren Stereotype aber niemals bedient. Heißt, keine überlangen Dialoge, keine Tatortästhetik, kein Jugendamt, kein sozialpolitischer Überbau. Stattdessen blickt Abdel-Salam tief in die Psyche seiner alkoholkranken Hauptfigur Michaela (toll: Cornelia Ivancan) mit Kindheitstrauma, indem er sie knallhart mit dem Unheimlichen konfrontiert.
Das traumatisierte Kind
Besonders lag es Abdel-Salam am Herzen, die Perspektive eines Kindes einzunehmen. Ein Kind, das unter der Sucht der Mutter mindestens ebenso leidet wie die Suchtkranke selbst. In „Smother“ ist das Michaelas Tochter Hanna (auch sehr stark: Lola Herbst).
Abdel-Salam beschreibt eine Szene aus seinem Film, in der Michaela für einen kurzen Moment in ein anderes Zimmer verschwindet, wiederkommt und plötzlich verwandelt ist. In etwas Schreckliches verwandelt – durch den Alkohol. „Sie ist nicht mehr die Mutter und das ist der ärgste Horror“, sagt er.
Als er diesen Satz ausspricht, liegt eine Schwere in seiner Stimme, die bis dahin noch nicht hörbar war. Er spricht langsamer und lässt für einen kurzen Moment durchscheinen, dass es hier nicht nur um die Figuren im Film geht: Geht es in „Smother“ auch um Achmed Abdel-Salam?
Wir werden unterbrochen, als uns der Kellner zwei Getränke an den Tisch bringt. Abdel-Salam hat einen Cappuccino bestellt. Der Kellner fragt uns, ob wir Italiener sind. „Nein“, sagt der Österreicher – „wieso?“ Er sei halb Italiener, sagt der Kellner und ihm wurde gesagt, dass hier am Pressetag des Filmfestivals auch Italiener da sein sollen. „Einer ist gerade drinnen beim Interview“, sagt Abdel-Salam und meint Paolo Strippoli, einen Regisseur aus Italien, der gerade seinen neuen Film „Flowing“ vorstellt.
Als ihm der Kellner erzählt, dass er sich immer freue, wenn er andere Sprachen höre, scheint das Abdel-Salam auf eine Weise zu rühren. „Ja, ich versteh das“, sagt er. Er selbst sei ja zur Hälfte Ägypter. „Immer wenn ich Ägyptisch höre, dann …“ Er bricht den Satz ab.
„Danke für den Kaffee!“
Für diese Unterbrechung entschuldigt sich Abdel-Salam. Als sei es ihm unangenehm, dass er sich während eines Interviews zu einem Plausch mit dem Kellner hinreißen lässt. „Was wolltest du sagen zu David Lynch?“
Der hat gesagt, wenn das Bekannte sich in etwas Unbekanntes verwandelt, dann kommt der Horror ins Spiel.
„Voll! Das ist so eine schiache Unheimlichkeit und mich nehmen solche Filme immer mehr mit.“
Bis das Blut gefriert!
Im Vorfeld hatten ein paar Leute, die den Film schon auf der Diagonale in Graz gesehen hatten, geschrieben, dass sie in „Smother“ eine Referenz zum japanischen Horrorklassiker „The Ring“ erkannt haben.
„Die war unbeabsichtigt“, sagt Abdel-Salam. Nein, seine Inspirationsquellen seien eher alte Gespensterliteratur aus Großbritannien gewesen. Die handeln dann von Geistern, die zu Lebzeiten etwas Schlimmes getan haben und jetzt dazu verdammt sind, die Dinge Nacht für Nacht solange zu wiederholen, bis sie erlöst werden. Vor allem bei den späteren Fassungen des Drehbuchs zu „Smother“ seien diese Art von Geschichten enorm inspirierend gewesen.
Und die filmischen Referenzen?
Sofort nennt er „Bis das Blut gefriert“, den Hill House-Film aus dem Jahr 1963. „Den lieb ich einfach und der funktioniert jetzt noch immer super. Wie die das geschafft haben damals – mit einem Schwarz-Weiß-Film. Ich krieg noch immer Gänsehaut bei manchen Szenen“, sagt er und streicht sich mit der rechten Hand über seinen linken Unterarm. So effektiv sei der Film, so cool.
Oder „Schloss des Schreckens“, ebenfalls ein britischer Horrorklassiker. „So gut.“ Aber auch moderne Filme hätten ihn inspiriert. „The Others“ mit Nicole Kidman. Oder ein iranischer Film von 2016 – „Under the Shadow“. Wie in „Smother“ wird hier eine sehr angespannte Mutter-Tochter-Beziehung erzählt, in die sich der Horror erst nach und nach einschleicht.
Aber Herr Abdel-Salam, wo hört die Hommage auf und wo fängt die Kopie an?
„Als Regisseur stehst du immer vor der Herausforderung, dass es alles schon 100-mal gegeben hat“, sagt Abdel-Salam. Für einen österreichischen Regisseur im Speziellen, der einen Film dreht mit Referenzen, sei es nochmal härter. Mit Sicherheit komme da immer jemand daher und sagt: „Des hat’s ja scho mal gem vor 20 Jahr.“
Er zitiert einen Facebook-Kommentar zu „Smother“, der auf die unfreiwillige „The Ring“-Referenz anspielt:
„20 Jahre später: der Ösi-Ring“
Es geht also auch darum, Neues aus dem Alten zu erschaffen. In „Smother“ ist ein Beispiel für eine solche Neuinterpretation von Altbewährtem die Figur einer alten Frau, die unter Demenz leidet. Viele hätten Abdel-Salam gesagt, dass man diese Art von Figur schon kennt. „Stimmt schon“, sagt er. Aber in diesem Film gehe es wirklich und vordergründig ums Vergessen und ums Erinnern – „die Figur hat also total Sinn gemacht.“ Für Abdel-Salam habe das bedeutet, über den eigenen Schatten zu springen. Das Klischee zu verwenden, um es drehen zu können, das sei gar nicht so einfach.
Als der Mann mit den wuscheligen Haaren und dem roten Hardline-Band über die alte Dame und das Vergessen spricht, hält er für eine Sekunde inne und beginnt dann, von seiner Mutter zu erzählen, die sehr früh gestorben ist. 16 Jahre war er damals alt gewesen.
„Ich kann mich erinnern, damals war eine meiner größten Ängste, meine Mutter zu vergessen.“
Wieder eine kleine Pause. „Und plötzlich ist mir bewusst geworden: Ich werde den Großteil meines Lebens keine Mutter gehabt haben.“ Ja, da komme bestimmt dieser Gedanke her, der auch im Film drinsteckt. Der Gedanke, dieses vergessene Gesicht abzubilden, hinter dem natürlich die Angst vor dem Vergessen selbst steckt.
Er erzählt von seiner Mutter, erzählt von den Erfahrungen mit dem Alkoholismus, die er in seiner Familie machen musste und bleibt dabei ganz ruhig. Ab und zu hält er inne; seine Stimme aber, sein Körper, die sind ruhig. Ob er darüber schon öfter gesprochen hat? Jedenfalls wirkt es so. Trotzdem macht Abdel-Salam deutlich: Es ging ihm in „Smother“ nie um Eigentherapie.
„Meine persönlichen Erfahrungen sind nur Ausgangspunkte meines Films gewesen – ich habe sie nicht direkt verarbeitet.“
Und so fühlt sich „Smother“ auch an: wie ein Film, der aus dem Leben gegriffen ist – und zwar aus dem Leben vieler Menschen. Ist „Smother“ ein Film, in dem es um Achmed Abdel-Salam geht? Nein, der Film ist eher einer, der uns alle etwas angeht. Ein Film, der Ängste aufgreift, die in uns allen stecken. Die Angst vor dem Vergessen, die Angst vor dem Unheimlichen und vor dem, dass aus dem Bekannten plötzlich Unbekanntes wird.
In knapp sechs Stunden wird der Film dann internationale Premiere feiern. In Regensburg im Ostentorkino. „Letzte Woche war ich noch total cool und hab so ein paar Interviews gemacht, auch mit dem Fernsehen in Österreich“, sagt er.
Und hier in Regensburg?
„Ja, irgendwas dürfte hier passiert sein. Ich hab so schlecht geschlafen. Ich bin die ganz Zeit aufgewacht im Hotel.“ Sicher sei das dieser Kinostart. Er hoffe einfach, dass der Film heute halbwegs gut ankommt und dann für zwei Wochen gut in den Kinos laufen wird.

Als Achmed Abdel-Salam dann ein paar Stunden später ein zweites Mal hinter der Leinwand hervorkommt, ist er nicht alleine. Neben ihm stehen Lena Weiss, die Produzentin von „Smother“, und sein Kameramann Alexander Dirninger. Dirninger hat sein kleines Baby auf dem Arm und die vier sehen aus wie eine kleine Familie, für die jetzt eine Reise zu Ende geht. Das Schlimmste ist überstanden – jetzt auch für den Mann mit dem hohen Kragen, der neben der Leinwand auf und ab gegangen ist und irgendwie keine Ruhe gefunden hat.
Überstanden, denn dem Hardline-Publikum hat der Film gefallen. Die Leute haben applaudiert und auch abgestimmt: im Durchschnitt mit 4,11 von möglichen 5 Punkten. Das bedeutet, „Smother“ ist der Film, den die Zuschauer auf dem Festival am viertliebsten gemocht haben. Mehr als halbwegs gut also, denn immerhin hatte der Abdel-Salams Film zwölf Konkurrenten.